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Alte Zeitung, neuer Geist. Oder: Frühe Erfahrung eines Fias ...

Wolfgang Grahl, 30.07.08

Mitten im Herbst 1989 wurde in Rostock – wie auch anderswo in der DDR – die Idee von einer eigenen, unabhängigen Tageszeitung geboren. Die „neue Demokratie“ traute den Journalisten und Verlagsmitarbeitern der alten Parteiblätter nicht über den Weg. Erfahrungen in der Wende bestärkten sie in ihrem Urteil.

Im Dezember 1989 erstritten vor allem die Mitgründer der bis dato verbotenen SPD, der Rostocker Kinderarzt und spätere Klinikleiter an der Universität Rostock, Dr. Ingo Richter, und der Musikdozent Horst Denkmann, am Runden Tisch des Bezirkes Rostock das Erscheinen einer solchen „Stimme der neuen Demokratie“. Von der Idee bis zur Realität sollte es im Verhältnis zum rasanten Tempo der friedlichen Revolution aber ein langer und langatmiger Weg sein.

Auch 18 Jahre danach ist es schwer zu ergründen, ob der damalige VEB Ostseedruck, der die Ostsee-Zeitung als Organ der SED-Bezirksleitung, zwei Tageszeitungen der Blockparteien sowie ein Bündel Betriebszeitungen druckte, mit seiner völlig überalterten Bleisatztechnik mit einem weiteren Blatt wirklich überfordert war oder ob es sich um eine schlitzohrige Hinhaltetaktik der Altkader handelte – beides wird wohl der Fall gewesen sein. Ideologische Blockade, Konkurrenzfurcht in einer noch unberechenbaren Zeit?Die neue Zeitung kam erstmals erst am 15. Februar 1990 auf den Markt. Dann aber sollte es auch gleich ein Knaller sein: 100 000 Exemplare für ein Land – Mecklenburg-Vorpommern –, das es pro forma noch gar nicht gab.Ganz bewusst stimmten wir auf Vorschlag der jungen revolutionsgeladenen Sozialdemokratie einem alten Titel zu: Die Mecklenburgische Volks-Zeitung (MVZ) sollte es sein, jene „Tages-Zeitung des schaffenden Volkes für beide Mecklenburg“, die 1892 im Rostocker SPD-Haus in der Doberaner Straße 6 das Licht der Welt erblickte und am Freitag, dem 12. Mai 1933, von den Nazis am Ende der Demokratie, im Zuge der Gleichschaltung verboten wurde.Wir wollten eine Legende benutzen, um damit jedem vor Augen zu führen: Das ist das Neue; unter dem allumfassenden Führungsanspruch der SED-Kommunisten wäre das in der DDR schier unmöglich gewesen: Gegründet im Kaiserreich, von den Diktatoren verboten und nach etlichen Jahren Presseunfreiheit wiedererstanden. Ein wichtiger Grund also für all jene, die es ernst mit der gänzlich neuen Gesellschaft meinten, uns zu kaufen. Dies kurz vorweg: Die Rechnung ging nicht auf.Zur langen Vorgeschichte gehörte das Suchen und Finden eines Redaktionsteams, die Gründung einer der ersten Privatgesellschaften im Nachwendefieber, der Mecklenburgischen Presse GmbH, einer Redaktion - und vor allem brauchten wir Geld... Alles im Eiltempo, wir hatten keinen Tag zu verlieren, die Zeit lief uns davon. Viele große und kleine Steine im Weg.Als bei der ersten Kontaktrunde im damaligen Haus der Demokratie in der Ernst-Barlach-Straße 2 (heute das Gebäude der IHK zu Rostock) Vertreter eines bundesdeutschen Verlagskonzerns vorsichtig von einem gemeinsamen Start sprachen, scherte der Großteil der interessierten Journalisten, die wir angesprochen hatten, aus: Unabhängigkeit war ihnen das Wichtigste. Eine Handvoll Zeitungsleute der damaligen Bezirksblätter „NNN“ und „Der Demokrat“ blieben; vom Neuen Forum hielten Werbegrafiker Horst Kirschneck und Tierforscher Dr. Rainer Ohff (heute Uni-Dozent in Bolivien) der MVZ die Stange.Die Redakteure Detlef Kuzia und Frank Peters ließen sich nicht beirren, auch sie gingen das Wagnis der Zeitungsneugründung ein; sie hatten mit Krach ihre alten Redaktionen verlassen. Zu uns stießen in früher Phase der Historiker Dr. Karsten Schröder (heute Stadtarchiv), der für einzigartige und großformatig aufgemachte Geschichtsbeiträge sorgte, die in eigenen Beilagen bei unserem ersten West-Partner („Hilfe zur Selbsthilfe“), dem Weser-Kurier Bremen, gedruckt wurden, und Maria Pistor, die mit Leidenschaft dem Laden frischen Schwung gab. Redakteurin Frauke Kaberka vom „Demokrat“ (heute bei der dpa), die in Wendetagen Mut und Courage bewies, baten wir inständig, bei uns einzusteigen, und sie kam; wir wählten sie kurz darauf zu unserer Chefredakteurin; mit ihr bekam die ganze Sache etwas mehr Kontur, doch all das half nicht übern Berg. Vom Werbekuchen der sich neu orientierenden und formierenden Betriebe blieb uns nur wenig. Immer mehr Leute von der schreibenden Zunft, aber auch viele Quereinsteiger, unter ihnen Roland Hartig, versuchten bei uns ihr Glück. Mit Energie und stets großer Furcht vor einem möglichen Untergang der MVZ war Martina Plothe dabei, die – wie viele andere – bis heute dem Rostocker Journalismus treu blieb.Mit Hilfe von Ingo Richter, zu jener Zeit in der SPD Rostocks und des sich herausbildenden Landes eine wichtige Figur, „besetzten“ wir das Alteigentum Doberaner Straße 6; wir bezogen über den Büros der „Sozis“ unsere MVZ-Redaktion. Dort saß zu DDR-Tagen die Arbeiter- und Bauerninspektion, ABI, deren Leiter kampflos das Feld räumte.In der Anfangsphase bedrängten uns die vorderen SPD-Leute nahezu täglich, etwas für die Partei, vor allem zu den bevorstehenden Wahlen am 18. März 1990 zu tun, schließlich würde es die MVZ ohne die SPD überhaupt nicht geben. Stimmte, aber wir steckten im Zwiespalt: Parteizeitung, wie es in der DDR für alle Tageszeitungen gang und gäbe war, wollten wir nie wieder sein; gerade all jene, die von den einst etablierten Blättern in Rostock stammten, lehnten das kategorisch ab. Es blieb ein Drahtseilakt, der eigentlich bis zum Schluss der MVZ andauerte.Plötzliches Aufatmen im Frühjahr 1990: Ein neuer West-Partner wurde uns vermittelt, die „Neue Westfälische“ Bielefeld. Wir schlugen sofort ein und praktizierten auf einmalig schöne Weise im noch nicht vereinten Deutschland bis in den Sommer eine ost-westdeutsche Gemeinschaftsarbeit mit prima Kollegen aus Gütersloh, Bielefeld und Höxter, allesamt zumeist mit hoher Motivation, kollegial, überhaupt nicht hochnäsig. Und alles gratis, „Hilfe zur Selbsthilfe“. Eine Erfahrung, an die sich die meisten bis heute mit Freude erinnern. Kurzfazit: Ein freier und befreiender Journalismus – unwiederholbar in einer ebenso unwiederholbaren Phase deutscher Geschichte; aber was half das schon: Wir kamen nicht aus den Kinderschuhen.Arbeit ohne Ende, denn wir produzierten die dürre und dünne MVZ mit ihren meist nur sechs oder auch mal acht Seiten per nur halbwegs funktionierendem Telefon, mit Schreibmaschinenmanuskripten, die von der Redaktion ins Druckhaus mit dem Boten zu schicken waren, wie auch die wenigen Fotos, die dann im stark gerasterten Schwarz-Weißdruck kaum noch zu erkennen waren.Neben der Entschuldigung, dass wir die schlechtesten Bedingungen für den Druck unserer Zeitung hatten, hielt der Inhalt dem selbstgesteckten Anspruch nicht stand, konnte es nicht. Hinzu kam das Problem mit dem Vertrieb, beinahe jeden Tag gab es Ärger mit dem Postzeitungsvertrieb, Abonnenten beklagten, die MVZ käme gar nicht oder viel zu spät. Abbestellung auf Abbestellung folgte. Zudem war es genau die Zeit, da die bunte bundesdeutsche Zeitungspracht über den Osten hagelte; kaum eine Chance, mit den Idealen der verlängerten friedlichen Revolution beim Publikum zu landen.Wir wussten viel zu unscharf, wohin die Reise gehen sollte. War es zu Beginn eine Art irrgläubige Hoffnung auf die schon erwähnte Konservierung von Wende-Ideen, so muteten wir uns kurz später an, Enthüllungsjournalisten der ersten Stunde zu sein. Dann wieder wollten wir alles verdammen, was nach DDR roch; doch wir merkten nur zu schnell, dass es die meisten Leute es schon damals satt hatten, permanent vorgejault zu bekommen, sie hätten in der roten Diktatur ein nutzloses Leben gelebt.Was sich für Ostdeutschland heute wie ein Bumerang der Geschichte erweist und die meisten Menschen vielleicht unreflektierter „umdenken“ lässt, zeichnete sich schon Mitte der 90er ab: Keiner von uns wollte (und will) sich den Stempel aufdrücken lassen, auf einer geistigen und materiellen Müllhalde groß geworden zu sein. Lebenswahrheit und Gerechtigkeit im Spiegel der Zeit haben andere Gesichter als Fratzen.Wir aber wurschtelten mit einem Themeneintopf und unserem Alleweltsjournalismus weiter. Den Inhalt bestimmten zeitliche Einschnitte. Erst die ersten freien Volkskammerwahlen, dann die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion vom 1. Juli 1990, dann der Prozess der Länderbildung und des kritischen Bestimmens der Landeshauptstadt – thematisch schwammen wir ohne Kontur im Strom der Tage mit.Das spiegelte sich in den Seelen. Der eine hisste die alte DDR-Fahne aus dem Redaktionsfenster der Doberaner Straße 6, der andere strebte nach stinkkonservativen Werten von Wohlstand in Freiheit, wieder andere pochten auf grüne Politik.Die Auflage rutschte in den Keller, nur noch 9000 Druckexemplare schreckten uns auf, der Radius wurde immer kleiner, alle Appelle der SPD an ihre Mitglieder, die MVZ zu bestellen, halfen nicht mehr aus der Klemme; die Schulden wuchsen mit jedem Drucktag, und die Zahl der Mitarbeiter (wir legten uns einen eigenen Vertrieb zu) wuchs ins Unüberschaubare. Und auch das schwere Geschäft der Anzeigenakquise wurde zu keinem Zeitpunkt beherrscht. Immer neue Leute kamen, wollten mitarbeiten, redeten pausenlos auf uns ein; Kaufinteressenten, Partner, endlose Gespräche. Das Geld war aufgebraucht, die Gründercrew physisch am Ende; es war für die meisten eine aufopferungsvolle Phase mit Mammuttagen, mit exzessivem Leben, dem Überschreiten der eigenen Grenzen.Der Tag musste kommen. Folgerichtig.Den 15. September 1990 werden alle, die dabei waren, nicht vergessen.Es regnete ununterbrochen. Horst und ich fuhren mit dem klapprigen „Wartburg“ ab Lütten Klein; wir redeten uns heiß, alles drehte sich um das „Wie“ – wie sagen wir es den Leuten, dass Schluss ist. Schluss mit der neuen Mecklenburgischen Volks-Zeitung, Schluss mit der Hoffnung vom eigenen, selbstbestimmten Medienmachen. Die Claims waren längst abgesteckt und die Karawane an uns vorbeigezogen.Vor die Doberaner Straße 6 hielten wir. Wir schwiegen uns die alten Treppen hinauf bis ins Sekretariat der MVZ. Dann fackelten wir nicht lange; jeder Tag hieß den unüberschaubaren Schuldenberg nur noch zu vermehren. Der Regen prasselte gegen die brüchigen Scheiben in den brüchigen Holzfensterläden des alten Gebäudes der Rostocker Sozialdemokratie und der alten MVZ. Ein paar Frauen fingen an zu weinen. Wir machten uns an die letzten Texte, den Abgesang.Zwei Paradiesvögel platzten mit ihren neuesten Arbeiten herein. Pawel Pawlitzki (heute armer Maler) aus Basse bei Gnoien, der die MVZ um die satirische Kunstfigur Harald Keim bereicherte und Andreas Ciesielski (heute erfolgreicher Buchverleger in Kückenshagen), der als linker Allzeitkämpfer Stoff aus der Region Ribnitz beisteuern wollte: Jetzt alles Papierkorb.Nach Geburt 1892, Verbot 1933, Wiedererstehen 1990 war es nun wirklich aus und vorbei mit der Mecklenburgischen Volks-Zeitung. Vor 18 Jahren gehörten wir mit zu den ersten in Rostock, die zum Arbeitsamt gingen, und wir lernten den Umgang mit den dauerhaften Schattenseiten der „neuen Zeit“.Wenn eine „Lehre“ zu ziehen ist, dann die, dass es in der damaligen und erst recht in der heutigen Gesellschaftsphase blanke Illusion ist, gegen die Finanzmacht der Medienkonzerne anzutreten. Wer so vermessen ist, eine Tageszeitung zu gründen, kann dies nur mit den Monopolisten.