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Mutig und wild der Realität begegnen - Ein Interview mit Ne ...

Nelly Stockburger ist Diplom-Psychologin und arbeitet seit 30 Jahren im Bereich Beratung und Therapie. „während ich in den ersten 10 Berufsjahren stark feministisch geprägt war, habe ich mich durch die Spezialisierung zur Sexualtherapeutin und durch meine persönliche Weiterentwicklung zu einer durchaus männerfreundlichen Frau entwickelt.“ Ihr Arbeit soll der Stärkung des Selbstbewußtseins und der Lebensfreude beider Geschlechter dienen und hat das Ziel „echte Freundschaft zwischen Frauen und Männern zu vertiefen, die sie befähigt, in gegenseitiger Solidarität, Hand in Hand die Altlasten unserer patriarchalen Kultur zu beseitigen.“ Während der Ausbildung zur Sexualtherapeutin öffneten sich ihr „in der geistigen Auseinandersetzung mit offenen Fragen zur menschlichen Sexualität Welten. Ich erkannte die geistig-soziale und politische Komponente der sexuellen Interaktion.“ Auch ihre eigenen „denkerischen Begrenzungen“ und gesellschaftliche Mythen gingen in diesem Prozeß verloren. „Für mich wurde die menschliche Sexualität ein Lebensthema, an dem ich bis heute weiterlerne, forsche und übe. Wegen meines brennenden Interesses am Thema machte ich mein privates erotisches Leben zu einem Experiment.“ Nelly lebte viele Jahre in selbstbestimmten und politischen Gemeinschaften.

*fußnote: Hallo Nelly! Was macht denn den Bereich Sexualität zu so etwas Besonderem? Wofür brauchen wir Sexualität?Nelly: Sexuelles Erleben hat zahlreiche Komponenten, die über den beobachbaren äußeren Vorgang hinausgehen. Anders als bei Tieren erfüllt menschliche Sexualität sehr unterschiedliche, hochkomplexe Funktionen. Unsere Sexualität wird weder von Instinkten, noch von einem Trieb gesteuert, wie bis heute falsch behauptet wird. Der Mensch ist sexuell, weil er ein tiefes soziales Bedürfnis nach Vereinigung mit einem Mitmenschen hat. Die Arterhaltung kann sozusagen nebenher erfüllt werden. Sie soziale Bedürftigkeit bleibt jedoch über ein ganzes Leben, unabhängig vom Alter und von hormonellen Prozessen erhalten. Deshalb kann die geistig-soziale Ansprechbarkeit bis zum Tod lebendig bleiben, wenn die Menschen es eben schon etwas früher gelernt haben, diese Komponenten einzuüben. Das Üben als eine Prämisse des Lernens ist ein notwendiger Vorgang, weil die menschliche Sexualität hauptsächlich vom lernenden Gehirn geformt und bewertet wird. Sie ist also eine Funktion des sozialen Lernens. Sie sollte deshalb nicht in einer Reduzierung auf biologische Formeln erklärt werden. Neben den bekannten Formeln für soziales Lernen, die den Menschen in seinem aktuellen sexuellen Erleben zur logischen Folge seiner vohergegangenen Lerngeschichte auf dem Gebiet der Geschlechterrollen macht, gibt es noch eine weitere Funktion des „höheren“ Bewusstseins, die ich hier unerklärt und salopp „geistige Kompetenz“ nennen möchte. Diese geistige Ebene, die in der Sexualität mitschwingen kann, ähnelt dem, was uns unter dem Begriff „Meditation“ bekannt ist. In der Verbindung mit Sexualität ist diese hirnorganische Kompetenz in unserem Kulturkreis fast unbekannt. Überliefert wird sie uns aus Hochkulturen, die sexuelles Verhalten auch in Verbindung mit Religion, Medizin und Philosophie diskutierbar machten. Wenn die Sexualität einen hohen ethischen Wert in der Kultur hatte, entstand zu diesem Thema Kunst, Literatur und Schulung der höheren Bildung zum Thema. So eine vornehme sexuelle Kultur konnte in der Sexualfeindlichkeit des lustfeindlichen Christentums natürlich nicht entwickelt werden. Wenn Du die in unserer Kultur üblichen pornographischen Bilder zu sexuellen Vorgängen anschaust, wirst Du verstehen, warum ich sage, dass unsere Kultur bis heute peinlich primitiv, ungebildet, fern von jeder schöpferischen Kraft vor sich hin dümpelt. Nahezu alles, was durch moderne Medien als „sexuelle Freiheit“ dargestellt und neu normiert wird, schreibt diese kollektive Dummheit für weitere Jahrzehnte fest. Ich lese das Zeug einfach nicht mehr, so wütend macht es mich. Die soziale Komponente ist die Sehnsucht des Menschen nach dem Glück in der Hingabe beim sexuellen Akt. Sie entseht durch die vertrauensvolle, unkontrollierte, nicht inszenierte Begegnung mit einem Du, mit dem wir uns für eine kurze Zeit über die Ich-Grenze hinaus vereinigen. Es ist der Zustand einer gelungenen Symbiose, ein Geschenk der Natur für erwachsene Menschen, die dabei kurz ausruhen dürfen von der alltäglichen Notwendigkeit, in einem individuellen, gut abgegrenzten, autonomen Selbst zu funktionieren. Genau vor diesem Idyll türmen sich die unzähligen Kränkungen unseres Selbstwertsystems auf, die uns die Fähigkeit des Vertrauens, den Mut zu einer bedingungslosen Öffnung des Herzens, die spielerische Neugier im Sexuellen auf dem langen Weg der Lerngeschichte oft gründlich verdorben haben. Das bedeutet, dass es ohne ein Neulernen, Weiterlernen, Bewusstmachen und Beseitigen historischer Hindernisse nicht so einfach möglich ist, die Sexualität in der ganzen Tiefe ihrer Qualität zu erleben. Auch hier bleibt uns nur der Weg als Ziel. Eine wachstumsorientierte, also lebendig bleibende sexuelle Liebesbeziehung ist auf ein hochentwickeltes, feinfühliges Sozialverhalten der Beteiligten angewiesen und auf deren Bereitschaft in aufrichtiger Selbsterkenntnis an historischen Einschränkungen zu arbeiten. Die Einschränkungen sind wiederum nicht körperlich, sondern sozial und geistig zu verstehen. *fußnote: Ohne Sexualität gäbe es kein menschliches Leben und trotzdem müssen wir diese uralte Verhaltensweise lernen?Menschen sind auf Gemeinschaft angewiesen. Gemeinschaften bilden Kulturen, die dem jeweiligen Gesellschaftssystem eine Wertehierarchie und ein verbindliches Moralsystem verleihen. Der politische Aspekt liegt darin, dass nicht ethische Werte die Konzepte über Liebe, Glück und sexuelle Selbstverwirklichung begründen, sondern ganz allein die Machtverhältnisse in einer Gesellschaft. Was also in einer Kultur über Ehe, Liebe und Sexualität gedacht und gelebt wird, dient einfach nur der Aufrechterhaltung eines bestehenden Systems. Das System folgt sozio-ökonomischen und machtpolitischen Kriterien. Das Wohlergehen und die Würde des Individuums ist dem System gleichgültig. Um die Menschen zur Bravheit zu befähigen, in der sie ihrem System dienen sollen, vermittelt das lernende Gehirn sexuelle Normen als Mittel der Anpassung. Die Erziehung der Eltern verwandelt beliebige Mythen in eine Über-Ichstruktur, die Menschen lebenslang recht veränderungsresistent macht. Auf diese Weise entsteht die Konstanz in einer Kultur. Jegliche Aussage zu den Geschlechterrollen und ihrer Verbindung zu moralischen Werten kann also von jedem Menschen, rein „biologisch“ betrachtet, erlernt werden. Auf diese Weise hat die Natur abgesichert, dass jedes Neugeborene in seiner Kultur aufwachsen und die Art mit einer neuen Generation erhalten kann. Witzigerweise wird in allen Kulturen gleichermaßen behauptet, dass ihre jeweiligen Normen die Natur des Menschen wiederspiegeln würde. Damit ist es einfacher, unerwünschtes Verhalten als „abartig“ und „pervers“ zu stigmatisieren. Mit einer Ausgrenzung der Menschen, die systemfremdes Gedankengut leben und gar verbreiten wollen, schützen sich bestehende Machtverhältnisse vor Veränderung. *fußnote: Die Kultur bestimmt also auch unser intimster Erleben. Was ist mit der Eifersucht? Ist sie auch nur ein kulturelles Konstrukt? Kann man Eifersucht verlernen?An der Eifersucht ist nur eines klar, nämlich dass es sich um ein äußerst unangenehmes Gefühl handelt. Es ist von einer Schmerzintensität wie etwa Zahnweh. Menschen möchten es sofort abstellen, der Schmerz ist als Dauerzustand unerträglich. Weil jeder Erwachsene in seinem Leben schon unliebsame Begegnungen mit Eifersucht hinter sich hat, sehnen sich die wenigsten danach, Liebeskonzepte zu verwirklichen, von denen sie glauben, in lebenslangem Zahnweh verharren zu müssen. Ich möchte unterscheiden zwischen der begründeten und der unbegründeten Eifersucht. Sie kann „begründet“ sein, wenn der betroffenen Person das Risiko droht, den geliebten Partner zu verlieren. Wieso sollte sie sich darüber freuen? Wie könnte sie in einem Konstrukt brav mitarbeiten, in dem sie bald Opfer werden wird, verlassen und ausgegrenzt? Freie Liebe-Modelle, die mich interessieren, gehen vor allem mit dem Schutz einer bestehenden Partnerschaft einher. Ich sehe darin kein Lustprinzip, das Menschen von der Notwendigkeit befreit, sich gegenseitig sozial zu verhalten. Ich sehe darin eine neuartige Ethik, die die menschliche Liebesfähigkeit erweitern möchte. Ein MEHR in der Liebe kann allerdings nur dann zu persönlichem Wachstum führen, wenn alle Beteiligten davon einen spezifischen Zugewinn in ihrem Leben verspüren. Dabei sind sehr viele unterschiedliche Möglichkeiten denkbar. Die Verwirklichung der Ideen will natürlich erlernt sein, denn in unserer kulturellen Wiege lag sie ganz bestimmt nicht. Die Eifersucht als gesellschaftlliches Normenkonstrukt, wie sie zum Beispiel in unserer monogamen Kultur als ein Gradmesser für Liebe betrachtet wird, kann auch umgelernt werden, wenn die Kultur eine andere Aussage als vorteilhafter betrachtet. Ich habe zum Beispiel über mehrere Jahre ein Projekt besucht, das sich zum Ziel gesetzt hat, die Eifersucht ideologisch abzuschaffen. Also steigt in diesem Kontext der narzistische Zugewinn einer Person, wenn sie eben keine Eifersucht zeigt. Es ist wirklich erstaunlich, wie weit das führte. Gäste des Projekts, die in ihrem normalen bürgerlichen Leben wahrscheinlich genau so mit Eifersucht zu kämpfen hatten, wie die meisten von uns, zeigten, sobald sie das Eingangstor des besagten Geländes übertreten haben, ein souveränes, eifersucht- und neidfreies Verhalten, als sei das übergangslos „machbar“. Klar war ihr Verhalten fürs Erste nur eine Fassade der sozialen Erwünschtheit für die Zeit ihres Besuches im Projekt. Politisch interessant ist aber genau der Umstand, dass das eifersüchtige Verhalten ganz offensichtlich von den Menschen kontrolliert werden konnte. Mir persönlich erscheint es in der Folge meiner Lebenserfahrungen eher wichtig, dass ein Mensch die Eifersucht, die er ja durchaus empfinden mag, auch ausdrücken darf. Anders als es die Normen unserer Gesellschaft erlauben, sollte ein Mensch zu einer neuen Liebesethik finden und seine Gefühle nicht in einen moralischen Anspruch verwandeln, mit dem er glaubt, den Partner, manipulieren und kontrollieren zu dürfen. Ein Liebespartner bleibt trotz auftretender Eifersucht immer noch ein freier, selbstbestimmter Mensch. Wenn er liebesfähig ist, wird er ganz freiwillig darauf achten, den geliebten Menschen nicht unzumutbar zu quälen. Viele Aspekte unseres Gefühlserlebens sind jedoch bewußter Kontrolle sehr schwer zugänglich. Das sind die Wunden der ungeliebten Menschen und traumatische Verletzungen, die sie auf ihrem bisherigen Lebensweg erlitten haben. Schwere Traumata bilden körperliche Leidenszustände im Gehirn ab, die auf Reize der Gegenwart hin manchmal mit einer vollen Reaktion aus der Vergangenheit ausbrechen. Die Reaktion erschlägt dann alle sogenannten vernünftigen Kontrollmöglichkeiten. Der Mensch ist im AUS. Wenn wir ein therapeutisches Ideal formulieren würden, müsste man also sagen, nur ein vielgeliebter, oder ein von allen frühen Wunden geheilter Mensch kann es ohne die Gefahr der Selbstzerstörung riskieren, sich in Modellen der offenen Beziehung zu bewegen. Das ist einerseits richtig, aber es würden keine Menschen übrig bleiben, die es gefahrlos tun könnten. Politisch ist so ein Ideal schon gar nicht. Freie Liebe als Reservat für eine kleine Gruppe der ganz Privilegierten (die Geliebten und Nichtneurotischen, falls es die gäbe....)? Das wollen wir nicht. Aber warnen dürfen wir unsere Freunde schon. Vielleicht mit einem kleinen Hinweis darauf, dass die Mühe, sich auf einen einzigen Menschen tief und aufrichtig einzulassen, sehr nützlich dafür ist, DANACH den Versuch zu wagen, mehrere Menschen zu lieben. Aber ein Risiko bleibt in dem Modell immer, das gehört zu jedem Neulernen dazu. Eine weitere internale Variable ist die Stabilität des Selbstwertgefühls. Sexuelle Freuden werden erst dadurch möglich, dass sie das Selbstwertgefühl anheben und nicht senken. Liebe unter mehreren Personen bleibt also auch nur dann eine Liebe, wenn der Selbstwert von allen unversehrt bleibt. Leider sind Menschen mit schlechtem Selbstwertgefühl schon allein deshalb sehr eifersüchtig, weil sie es gewohnt sind, sich mit anderen zu vergleichen. Sie tun das, um in süchtiger Weise zu inszenieren, wie sie entsprechend ihrer Vorerwartung „verlieren“ werden. Obwohl das Verhalten eine Folge der schon erwähnten frühen Verletzungen ist, empfinden diese Menschen ihre selbstinszenierten Niederlagen als Opferschaft. Sie sehen in den Partnern die dazu passenden Täter. Wenn ein Paar sich dafür entscheiden möchte, die Beziehung zu öffnen, kommt es also im weiteren Verlauf sehr darauf an, wie gut sie es schaffen, sich gegenseitig in ihrem Selbstwert zu schützen und zu stützen. Für mich ist freie Liebe nur dann ein Glück, wenn ein vorhandenes Glück an andere weitergegeben wird, nicht wenn etwas von anderen geraubt wird oder wenn mein Glück die Absicht birgt, das Glück anderer zu zerstören. Meine freie Liebe ist ein sehr soziales Konstrukt. Bedauerlicherweise habe ich das Modell sehr selten mit einer gleichgesinnten Mitfrau teilen dürfen. Die meisten Frauen kommen genau im Akt des Wegnehmens am deutlichsten in erotische Leidenschaft, während sie für die nicht zweckgebundene und nicht manipulative Erotik in einer Gunst der Stunde wenig übrig haben. Heftigste Eifersucht als Folge der narzistischen Kränkung, wenn Prinz oder Prinzessin nicht EINZIG auf ihrem Thron sitzen dürfen, ist in unserer Kultur die Norm. Die Variationen der Katastrophen , die im Zusammenbruch des narzistischen Selbstideals empfunden werden, sind unzählbar. Solange in der gegenwärtigen Gesellschaft das narzistische Individuum ungehindert hochgezüchtet wird wie ein Mastschwein, werden wir das Problem nicht lösen. *fußnote: Warum ist die romantische Zweierbeziehung aktuell wieder so modern?Die romantische Liebe und das dazugehörende Ideal der sexuellen Treue sehe ich derzeit als ein existenzielles Notkonstrukt an, das die Menschen zu Hilfe nehmen, um in der Bedrohung durch die Wirtschaftskrise an irgendetwas glauben können, das ihnen angeblich SICHERHEIT gibt. Menschen können anscheinend ohne irgendein Gefühl „sicher“ zu sein, nicht leben. Deshalb verhalten sie sich in der Krise des Kapitalismus, im Verlust der Religion als Wertegeber, im zunehmenden Verlust der Menschlichkeit in Gemeinschaften „gläubig“ illusionär und kindlich. Tatsächlich kannst Du die infantilen Bilder der romantischen Liebe fast als Religionsersatz ansehen. Wer den Mythos der romantischen Liebe in aufklärerischer Absicht angreift, gerät als „ketzerischer“ Informant in Gefahr. Ich habe in meinem Beruf sogar oft erlebt, für die Verbreitung von Erkenntnissen aus der Wissenschaft menschlich diskriminiert zu werden.*fußnote: Brauchen wir andere bessere Normen für die Gestaltung unseres Beziehungs- und Sexuallebens?Ich bin gegen jede ideologische NORMIERUNG der Liebe. Ganz schlechte Erfahrung habe ich mit dem ideologischen Unterdrücken der Eifersucht gemacht. In den frühen , ideologischen Gruppen, in denen ich lebte, war es verpönt, Eifersucht offen auszudrücken. Wir taten das auch nicht. Aber genau dann nahm das scheußliche Gefühl sehr destruktive Seitenwege, um dann doch bei einer „unauffälligen“ Gelegenheit hasserfüllt zuzuschlagen. Mit fadenscheinigen Scheinkriegen auf angeblich „neutralen“ Konfliktgebieten wurden damals ganze Projekte in Schutt und Asche gelegt. Gottseidank haben wir endlich ein Grundgesetz, das Menschen die Freiheit gibt, in ihren ganz persönlichen Wertvorstellungen zu leben. Tun wir es doch, die Tür steht auf!!! Für ein Paar heißt das, dass es seine monogame oder auch freie Liebe in einem individuellen Vertrag regelt, der von beiden ausgehandelt wurde. Das führt zu einer würdigen Partnerschaft, also einem gemeinsamen Konstrukt, für das künftig beide Partner Verantwortung tragen. Die Selbstverantwortung des Einzelnen liegt darin, sich um Klarheit bezüglich der eigenen Grenzen und Möglichkeiten zu bemühen, sie danach deutlich zu formulieren, mit dem Ziel, gute Grenzverhandlungen zu führen. Ich setze immer noch voraus, dass liebende Menschen Lust haben, auf Grenzen des Partners mit Respekt zu reagieren. Das heißt aber keinesfalls, dass sie alles tun müssten, was der Partner will.*fußnote: Wie kamst Du selbst eigentlich dazu, das bürgerliche Ideal der Partnerschaft und Sexualität zu hinterfragen?Meine private Entwicklung konnte ich im Dialog mit politischen Utopien führen, weil mein Über-Ich von meinen Eltern mit dem Auftrag zu politischem Mut und anarchischem Freidenken versehen war. Ich brauchte mich also nicht an die Moralvorstellungen und Sitte des bürgerlichen Lebensplans zu halten. Als „revolutionärer Mensch“ fühlte ich mich besonders verpflichtet, mein privates Frausein dafür zu nutzen, um herauszufinden, wie weit einer Frau in der heutigen Zeit darin gehen kann, ein autonomes, selbstbewusstes Leben auf sexuelle Selbstbestimmung auszudehnen. Mir war die Provokation in meiner Absicht durchaus bewusst. Ich wollte die Grenzen kennen lernen, die mir eine Gesellschaft entgegenstellen würde, der ich so mutig und wild begegne.Auf meinem Weg zu Konzepten der freien Liebe, wie ich sie heute verstehe und lebe, mußte ich viele Hürden überwinden, Prüfungen bestehen, Niederlagen verkraften. Das wird auch weiterhin so bleiben, denn ich gedenke ein lernender Mensch zu bleiben, bis ich sterbe. Ich war ich in allen Zeiten, auch schon als Kind, überzeugt von meinem absoluten Recht auf sexuelle Selbstbestimmung. Das heißt, dass es für mich undenkbar war, dass ich irgendjemandem „gehöre“. Gerne wollte ich freiwillig ZU jemandem gehören. Ein Liebesbündnis als ein soziales Miteinander zu verstehen, war in meinen Werten hoch angesehen. Aber auch darin war undenkbar, dass mir der Körper meines Partners gehöre, oder meiner ihm. Der absolute Kontrollanspruch über den Liebespartner, den bürgerliche Menschen für selbstverständlich halten, ist mir wesensfremd. Natürlich kann ich trotzdem Eifersucht empfinden, Verlustangst haben und was es noch so alles gibt. Aber aus diesen Gefühlen leite ich nicht den Anspruch ab, dass mein Partner sich passend zu meinem Inneren zu verhalten habe. Sein Verhalten sollte doch eher zu seinem eigenen Inneren passen, denke ich. Wenn Menschen liebend zueinander stehen, hoffe ich eben, dass sie genug freiwilligen Respekt füreinander aufbringen, große Lust auf gutes Sozialverhalten haben, mit dem sie sich gegenseitig liebevoll pflegen und nicht beschädigen wollen. Die Praxis ist natürlich eine andere Sache, denn Menschen sind ja nicht perfekt. Schon gar nicht auf diesem unerprobten Gebiet. Freie Liebe ist eine Utopie. *fußnote: Vielen Dank, Nelly!Empfehlungen: Gunther Schmidt (1998). Sexuelle Verhältnisse. Über das Verschwinden der Sexualmoral. Rowohlt.; Bernie Zilbergeld (2000). Die neue Sexualität der Männer. Was Sie schon immer über Männer, Sex und Lust wissen wollten. DGVT-Verlag.Das ungekürzte Interview unter: www.soziale-bildung.org > wiki >fußnote#5